Montag, 12. September 2016

Schrottimmobilien inmitten mehrdimensionaler Geschäftsmodelle rund um die Armut, mit Zuwanderern und - auch - durch Zuwanderer


Wenn es Themen in die Politikmagazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schaffen, dann meistens nicht, weil die dort schaffenden Redaktionen exklusiv etwas zu Tage gefördert haben. Das ist hin und wieder auch der Fall sein, in der Gesamtschau aber eher die Ausnahme, was auch nicht überrascht, denn investigative Überraschungseier sind seltene Exemplare und sie lassen sich in den heutigen Zeiten auch immer schwerer bis gar nicht mehr "produzieren", weil man dafür Zeit und Manpower braucht, mithin eine Menge Ressourcen. Meistens registrieren die Magazine sehr aktuell, wo gerade berichtenswerte Dinge ablaufen und wo es kritisches Material gibt, was dann in einem Beitrag fokussiert und bebildert werden kann. Insofern sind die Themen der Politikmagazine immer auch eine Art Seismograf für das, was im medialen Raum - beispielsweise an sozialpolitischen Themen - wahrgenommen und verarbeitet wird. Und natürlich spielt dabei auch immer die Frage eine Rolle, ob man die Themen mit Blick auf die Zuschauer skandalisieren kann, schließlich leben wir in einer Erregungsökonomie.

Man kann das gut konkretisieren am Beispiel eines Beitrags des ZDF-Politikmagazins "Frontal 21", der am 6. September 2016 ausgestrahlt wurde: "Sozialbetrug mit Schrottimmobilien" (Video bzw. Manuskript), so lautet die Überschrift des Beitrags, der sich mit dieser Thematik befasst: »Sogenannte Schrottimmobilien im Ruhrgebiet geraten zunehmend in den Blick krimineller Banden. Die nutzen die Not von Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien aus, um unsere Sozialsysteme abzuzocken.«

Und weiter erfahren wir auf der Sendungsseite:

»Die leerstehenden, abbruchreifen Häuser werden zu Spottpreisen aus Zwangsversteigerungen herausgekauft und dann unsaniert an Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien vermietet, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Chance haben.
Seit die Niederlassungsfreiheit auch für Arbeitnehmer aus Rumänien und Bulgarien innerhalb der Europäischen Union gilt, verzeichnen Städte wie Gelsenkirchen, Duisburg, Dortmund oder Hagen seit Anfang 2014 eine verstärkte Zuwanderung vor allem von Sinti und Roma aus den beiden Ländern. Die werden dann in maroden Häusern untergebracht, in denen es häufig keine Heizung gibt und die oft sogar baufällig sind.
Experten gehen von organisierter Kriminalität aus. Die Masche funktioniert so: Dem Gesetz nach dürfen sich nur Arbeitnehmer aus dem EU-Ausland in Deutschland niederlassen. "Dabei reicht aber schon ein Minijob“, betont der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen, Arnold Plickert. "Schlepper holen die Menschen in Rumänien und Bulgarien ab und organisieren hier die Abläufe." Arbeitsverträge würden zum Schein geschlossen, damit die Zuwanderer Sozialhilfe bekämen. "Dann quartieren sie die Menschen für teures Geld in ihren Schrottimmobilien ein und ziehen so das Geld ab.“
Auch der Stadtentwickler Torsten Bölting, Geschäftsführer des Institutes für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung an der Ruhr-Universität Bochum, bestätigt, dass „die Not der Menschen von windigen Geschäftemachern ausgenutzt“ werde. Die Kommunen aber stünden der Entwicklung weitgehend hilflos gegenüber. "Die Lösung wäre Stadterneuerung, aber das schaffen die Kommunen nicht alleine“, sagt Bölting und beschreibt einen Teufelskreis: "Städte wie Gelsenkirchen kaufen bereits selbst Schrottimmobilien auf und reißen sie ab.“ Das eingenommene Geld werde dann genutzt, um zwei, drei Straßen weiter drei neue Schrottimmobilien zu kaufen.«

Damit wird ein Thema aufgegriffen, das nicht nur - aber seit Jahren schon ganz besonders - im Ruhrgebiet als größeres gesellschaftspolitisches Problem erkannt und diskutiert wird. Immer wieder gab es in den Zeitungen und im Fernsehen nicht nur illustrativ beklemmende Schilderungen über sogenannte "Problemhäuser". Man werfe nur einen Blick in die Berichterstattung. Hier einige wenige aktuelle Auszüge: Stadt Hagen hat 40 Problemhäuser im Visier, so ein Artikel vom 23.08.2016. Am gleichen Tag diese Meldung: Stadt Duisburg lässt das nächste Problemhaus räumen: In einem kleinen, dreigeschossigen Doppelhaus waren 130 Menschen gemeldet. Es gab massive Sicherheitsrisiken. Am 02.08.2016 wird das hier berichtet: Bewohner sind entsetzt über „Müllhaus“ in der Wittener Sandstraße: »Müllberge vor der Haustür, mit Maden übersäte Tonnen, Abfall , der aus dem Fenster geworfen wird, Kot im Hausflur: Be- und Anwohner des Hauses Sandstraße 23 berichten von ekelhaften Zuständen. Verursacher sollen rumänische Familien sein, die in dem Eckgebäude leben. Bislang kommen weder Betriebs- noch Ordnungsamt dagegen an: Es sei eines von vier „Problemhäusern“ in Witten, heißt es aus dem Rathaus.« So könnte man jetzt sehr lange fortfahren mit dem Material aus der Vor-Ort-Berichterstattung.

Vor diesem Hintergrund sind die Ausführungen zum neuen Frontal 21-Beitrag vor allem hinsichtlich der weiterführenden Einordnung dieser offensichtlich Nicht-Einzelfälle hervorzuheben, denn sie machen deutlich, dass es sich bei dem sichtbaren und beklagenswerten Verhalten einzelner Bewohner bzw. Bewohnergruppen um die Spitze eines Eisbergs handelt und sich unter der einsehbaren Oberfläche ein vielgliedriges Ausbeutungssystem befindet. Eine Ausbeutung der Menschen in den Schrottimmobilien, eine Ausbeutung der Sozialsysteme bis hin zu einer damit verbundenen Reduktion bzw. Zerstörung der Akzeptanz für Zuwanderer in der Bevölkerung.

Es geht offensichtlich um ein filigranes Netzwerk an Geschäftsmodellen, die hier ihre Wirkung entfalten und deshalb muss man bei einer systematischen Analyse auch weg von der Nur-Beschreibung und der - durchaus berechtigten und auch für sich genommen verständlichen - Nur-Skandalisierung des Verhaltens einzelner Menschen vor Ort.

Der Beitrag von "Frontal 21" wurde neben den vielen bereits seit Jahren vorliegenden Berichten in der lokalen Presse sicherlich auch motiviert und gespeist aus diesem hervorragenden und wichtigen Artikel von Stefan Willeke: Der Häuserkampf, zuerst veröffentlicht in der ZEIT, Nr. 31/2016, am 21.07.2016:

»In das arme Gelsenkirchen sind 6200 Rumänen und Bulgaren gezogen. Manche wohnen in verfallenden Gebäuden, haben Scheinjobs und beziehen Hartz IV. Der Sozialbetrug wird von skrupellosen Geschäftemachern organisiert.«

Lesen wir noch ein wenig weiter in diesem spannenden Dossier von Willeke. Dabei entwickelt er einen Verdacht:

»Gelsenkirchen ist einer der Anziehungspunkte für Bulgaren und Rumänen, weil man dort für vier Euro Miete pro Quadratmeter jede Menge Wohnungen findet und billig leben kann. Aber kommen die Zuwanderer überhaupt nach Gelsenkirchen, um dort zu leben und zu bleiben, oder tun sie etwas anderes? ... Freizügigkeit bedeutet, dass andere EU-Bürger nach Deutschland ziehen dürfen, wenn sie sich hier um einen Job bemühen. Sechs Monate haben sie Zeit, eine Stelle zu finden. Sinn des Gesetzes ist es nicht, arme Menschen zu versorgen, sondern Bürgern die Chance zu geben, überall in der EU zu arbeiten. Aber suchten diese Menschen wirklich nach Arbeit? ... Auf eine Stelle als Küchenhilfe, die öffentlich ausgeschrieben wird, kommen in Gelsenkirchen rund 1.300 Bewerber. Es gibt Jobs für Menschen, die sich mit Computerprogrammen auskennen, aber es gibt fast nichts für Menschen, die schlecht Deutsch sprechen und nur ihre Hände als Arbeitsmittel anzubieten haben. Für einen ungelernten Arbeiter aus Rumänien, der in Deutschland eine Stelle sucht, ist nichts sinnloser, als nach Gelsenkirchen zu ziehen. Jemand, der eine billige Bleibe sucht, jedoch nicht unbedingt Arbeit, sondern Hartz IV, findet keinen besseren Ort als Gelsenkirchen.«

"Es gibt deutliche Hinweise auf Sozialbetrug. Zum Teil geht es auch um organisierte Kriminalität." Das sei "ein Phänomen". Das sind keine Zitate aus der rechten Ecke, sondern sie stammen aus dem Mund von Frank Baranowski, den Gelsenkirchener Oberbürgermeister und Sprecher der Ruhr-SPD. Und er fügt an: "Sich darüber zu äußern ist eine Gratwanderung, besonders für einen Sozialdemokraten."

Aber das ist eben eine Realität, die man sich nicht einfach wegwünschen kann, nur weil sie politisch nicht korrekt erscheint. Dazu ein bezeichnender Passus:

»Einmal wurde er gemeinsam mit anderen Bürgermeistern zu einer Konferenz des Bundesbauministeriums in Berlin eingeladen, um über die Schwierigkeiten mit den Zuwanderern zu berichten. Baranowski sprach von seinem Kampf gegen die Besitzer Hunderter heruntergekommener Häuser, die im Amtsjargon Schrottimmobilien heißen und in denen Tausende Bulgaren und Rumänen leben. Er sprach über unbezahlte Strom- und Wasserrechnungen, Immobilienhaie, dubiose Hausverwalter, Zwischenhändler und Preistreiber, den ganzen Graubereich, für den sich kein Staatsanwalt interessiert. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung schüttelte den Kopf, und Baranowski wusste nicht, ob sie ihm nicht glauben konnte oder ob sie es nicht wollte. Dabei hatte er nicht einmal den Arbeiterstrich erwähnt. Die Bezeichnung Arbeiterstrich hätte die Integrationsbeauftragte vielleicht erschreckt.«

Aber wie läuft das mit den Geschäftsmodellen? Am besten erläutern kann die sich hier andeutenden Abgründe der Leiter der Abteilung Wohnungswesen, Markus Horstmann:

»Seine Gegner sind nicht etwa Rumänen und Bulgaren, sondern meist türkischer Abstammung und kennen sich im Geschäft mit Schrotthäusern aus, die sie an die Zuwanderer vermieten. Als Verwalter dieser Häuser treten auch Deutsche auf. Horstmann sagt: "Auch wir hier haben Gentrifizierung, nur umgekehrt. Die Wohlhabenden gehen, die Armen kommen."«

Rund um die Schrottimmobilien ist ein komplexes Firmengeflecht entstanden, das man erst einmal erfassen und sortieren muss:

»Die Chefs jener Firmen, die Immobilien kaufen und oft weiterverkaufen, sind die entscheidenden Figuren in diesem System: die Dealer. Aber es gibt noch etliche andere Firmen mit anderen Chefs. Beugt man sich über einen der Pläne, glaubt man das Organigramm eines Dax-Konzerns zu sehen. Da sind eine Marketing-Gesellschaft, Reise- und Stromberater, eine Touristikfirma, ein Reisevermittler. Da tauchen Teileigentümer auf, in Grundbüchern nicht eingetragene Hausbesitzer, Spezialisten für Mietverträge, die Schwester eines Immobilienvermittlers, ein Bauservice, eine Grundbesitz GmbH, eine Management-Gesellschaft, nein, es sind genau genommen mehrere dieser Art. Da sind Zweigstellen und haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaften, auch in Nachbarstädten. Zwischeneigentümer treten in Erscheinung, Strohmänner, auch solche, die Markus Horstmann für Teilzeit-Strohmänner hält. In der übrigen Zeit arbeiten sie auf eigene Rechnung. In einer der Firmen wechselte binnen zwei Jahren 15 Mal der Geschäftsführer.«

Und in diesem Fall werden wir - bei allem Respekt vor dem Datenschutz - leider auch Zeuge, dass der Täter schützen kann: Der Abteilungsleiter der Stadt würde gern Register verdächtiger Personen anlegen, aber das darf er nicht. Nicht einmal seine Kollegen aus anderen Behörden rücken Angaben heraus – Datenschutz. Weder die Kripo noch das Finanzamt arbeiten mit ihm zusammen. Und so bleiben die Häuser eine Privatsache, die so doch schon längst nicht mehr sind.

Ein smarter Betriebswirt, der für einen türkischen Schrotthaus-Dealer arbeitet, skizziert in dem Artikel von Willeke die ökonomischen Mechanismen, die hier ablaufen: "In Gelsenkirchen kann man viel Geld machen", so wird er zitiert, "der Kaufpreis eines Hauses liegt hier nur beim Sechsfachen der Nettojahresmiete. In Berlin oder Hamburg ist es mindestens das 20-Fache." Man kann es auch so ausdrücken: In Gelsenkirchen wurden kleine Eigentumswohnungen in Schrotthäusern schon für 1.000 bis 5.000 Euro verkauft, dreistöckige Mehrfamilienhäuser für 90.000 Euro. Am besten sei es, ganze Häuser zu kaufen, nicht nur einzelne Wohnungen. Über die Mieter, Bulgaren und Rumänen, verliert er nicht viele Worte. Er sagt bloß: "Die wohnen nicht. Die hausen."

Aber wie kann das funktionieren, mit Schrottimmobilien viel Geld zu machen?

»Das große Geschäft der Schrotthaus-Dealer beginnt, sobald eine Zwangsversteigerung eröffnet wird. Wer im Gerichtssaal mitbieten will, muss vorher nur die Sicherheitsleistung zahlen, zehn Prozent des Verkehrswertes, 4.000 Euro, vielleicht 6.000. Mitarbeiter städtischer Ämter sitzen an manchen Tagen auch im Gerichtssaal und machen sich ein Bild. Der Höchstbietende erhält den Zuschlag, er ist der neue Hausbesitzer, muss aber den Kaufpreis nicht sofort zahlen. Das ist die entscheidende Lücke für die Schrotthaus-Dealer: Sie zahlen nicht, und nach einem halben Jahr wird vom Gericht die nächste Zwangsversteigerung angeordnet. Doch bis es so weit ist, kann der neue Besitzer bei Bulgaren und Rumänen Mieten eintreiben. Schon nach zwei Monaten rechnet sich das Modell.«

Aber es kommt noch dicker. Denn bis zu diesem Zeitpunkt ist noch relativ klar - da gibt es die Bösen, also die Täter, auf der einen und auf der anderen Seite die Opfer, die dem ausgeliefert sind. Aber wie so oft im Leben ist kaum etwas einfach gestrickt.

»Die Täter in diesem System sind also die Schrotthaus-Dealer. Die Opfer sind Rumänen und Bulgaren. So sieht es aus, aber Opfer können auch zu Tätern werden, das Dickicht ist kompliziert. Denn die Zuwanderer aus Osteuropa brauchen einen Job, um in Deutschland bleiben zu dürfen. Wie sollen sie in Gelsenkirchen eine Arbeit finden, die sie und ihre Familie ernährt? Wer kein Geld hat, kann auch keine Miete zahlen. So kommen Verbündete der Schrotthaus-Dealer ins Spiel, Scheinarbeitgeber, meist Türken, Libanesen oder Rumänen. Die Dealer und manche ihrer Verbündeten sind miteinander verwandt.«

Und wieder versuchen einige im System, diesen Entwicklungen hinterherzulaufen. Im örtlichen Jobcenter wurde eine "Soko Scheinarbeit" ins Leben gerufen, als man mitbekam, dass vor den Eingängen von Arbeitsagenturen Arbeitsverträge an Rumänen und Bulgaren verkauft wurden. Und hier sind wir mittendrin im Grundsicherungssystem, umgangssprachlich immer noch als Hartz IV bezeichnet:

»Wer eine Arbeit nachweisen kann, etwa einen Minijob für 400 Euro im Monat, kann einen Antrag auf "Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts" stellen, Formular HA. Das Jobcenter stockt dann das kleine Einkommen aus dem Minijob auf – bei einer sechsköpfigen Familie um etwa 1.600 Euro, abhängig vom Alter der Kinder. Manche Rumänen, die kaum Deutsch sprechen und weder lesen noch schreiben können, bringen den perfekt ausgefüllten Antrag HA mit, andere lassen sich von Dolmetschern begleiten, die mit den Feinheiten der deutschen Sozialgesetzbücher bestens vertraut sind.«

Aber was sind das für Firmen, die aus dem Nichts heraus 60 bis 80 Arbeitsplätze anmelden, lauter Jobs für Hausmeister, Putzhilfen oder Maurer? Es sind Scheinfirmen, was aber erst einmal bewiesen werden muss. Und auch hier wieder das ewige Hasel-Igel-Rennen: »Manche Scheinarbeitgeber zahlen den Scheinarbeitern tatsächlich Lohn, um den Schein zu wahren, lassen sich aber deren Kontokarten aushändigen und holen sich den Lohn am Geldautomaten zurück.«

Für andere, die weder Arbeit noch Scheinarbeit finden, bieten sich zwei Möglichkeiten: der Arbeiterstrich und die Familienkasse. Während die Taglöhnerei auf dem Arbeiterstrich natürlich eine äußerst prekäre und unstete Angelegenheit ist, läuft es mit der Familienkasse, die das Kindergeld ausreicht, schon besser:

»Jedem Einwohner, der Kinder hat, wird das Geld ausgezahlt. "Ab dem fünften Kind lohnt sich das Leben in Deutschland", sagte eine Rumänin zu einem Mann vom Gelsenkirchener Ordnungsdienst. Um Kindergeld zu bekommen, muss man allerdings gemeldet sein. Die Anmeldung ist begehrt.«

Damit wären wir auch wieder bei unseren Schrottimmobilien gelandet, die als "Container" für diese Anmeldungen fungieren (können). Und beim Kindergeld gibt es dann noch eine bemerkenswerte Steigerungsform:

»Wer Kindergeld möchte, muss seine Kinder anmelden. Dann wird das Geld auch rückwirkend gezahlt, bis zu vier Jahre – wenn der Mietvertrag besagt, dass man schon seit vier Jahren in Deutschland lebt. Bei vier Kindern kommen so bis zu 38.000 Euro Nachzahlung zusammen. Die Kinder müssen dafür nicht in Deutschland leben, aber es muss sie geben. "Nichts ist einfacher", sagt ein Beamter aus Gelsenkirchen, "als die Familienkasse an der Nase herumzuführen." Nur einmal im Jahr werden dort die Daten in den Computern abgeglichen. Bis dahin erfährt die Kasse nicht, ob ein Rumäne, der Kindergeld bekommt, schon lange wieder in Rumänien wohnt.«

Nein, das ist nicht nur ein lokales Problem in Gelsenkirchen, das den Rest der Republik nicht kümmern muss, auch wenn es hart ist für die vor Ort. Nehmen wir ein anderes, gut dokumentiertes Beispiel: Offenbach am Main. Dazu sei auf diesen Artikel verwiesen, der sich mit der konkreten Situation in Offenbach beschäftigt: "20 Leute in einer Wohnung - das ist auch in Rumänien nicht normal". In diesem Artikel wird Matthias Schulze-Böing, der das kommunale Jobcenter und zugleich das Amt für Integration leitet, mit einem bemerkenswerten Satz zitiert: "Wir schaffen das Prekariat für das nächste Jahrzehnt." Der Artikel legt den Finger auf eine klaffende Wunde in Zeiten, in der alle über "die" Flüchtlinge debattieren, aus fernen Ländern wie Syrien, Afghanistan oder Eritrea, aber andere "vergessen" werden: »Zuwanderer aus EU-Staaten, vor allem arme Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die jedes Jahr zu Zehntausenden nach Deutschland ziehen und ihr Glück suchen. Der Zuzug ist ungebrochen, er wird nur nicht mehr so wahrgenommen, allenfalls am Rande, wenn es um Kindergeld oder andere Sozialleistungen für sie geht.«

Natürlich wird der eine oder andere die Frage aufwerfen, was man denn nun im beschriebenen Fall von Gelsenkirchen machen sollte. Eine mögliche Antwort liefert uns Stefan Willeke in seinem Artikel:

»Dürfte sich Frank Baranowski, der Oberbürgermeister, etwas wünschen, dann wären es Abrissprämien. Dann könnte die städtische Entwicklungsgesellschaft im großen Stil aufräumen. Unter Entwicklung stellt man sich in Gelsenkirchen etwas anderes vor als in Hamburg oder München, nämlich Bagger. Sie vernichten Schrotthäuser, die von der Stadt gekauft werden und deren Renovierung sich nicht lohnt. So soll Schrotthaus-Dealern der Boden entzogen werden. Besser, man zerstört ein Haus, als es den Gegnern zu überlassen. Aber auch die Vernichtung ist eine teure Strategie. Das Geld der Stadt reicht aus, um Jahr für Jahr in drei Straßen Gebäude den Dealern zu entreißen. Es müssten hundert sein.«

Angebotsverknappung nennt das der Ökonom.

Aber über eines sollte man sich keine Illusionen machen: Solange wir dermaßen ausgeprägte Wohlstandsunterschiede innerhalb einer EU mit Freizügigkeit haben wie zwischen Deutschland auf der einen und den Armenhäusern der EU wie Rumänien oder Bulgarien auf der anderen Seite, solange wird es einen Druck in Richtung armutsinduzierte Migration geben. Und die daraus gespeiste, eben nicht räumlich gleichverteilte, sondern auf (zumeist großstädtische) Hotspots hoch konzentrierte Nachfrage nach Wohnungen, Arbeit usw. wird dazu führen, dass die Angebotsseite immer wieder mit neuen "Innovationen" versuchen wird, die Regulierungen und einen Kontrolldruck der Behörden zu umgehen.

Zugleich sollten die Ausführungen aber auch gezeigt haben, dass es von großer Bedeutung ist, sich nicht (nur) auf die Zuwanderer zu konzentrieren, denen man durchaus missbräuchliche Leistungsinanspruchnahmen vorwerfen kann, die aber Teil einer durchaus verständlichen Überlebensökonomie sind, sondern wenn schon, dann sollten an erster Stelle die wirklichen Profiteure im Fokus des rechtsstaatlichen Handelns stehen. Wie schwer das ist, wurde aufgezeigt, entbindet aber dennoch nicht von der Prioritätensetzung, hier tätig zur werden.

An dieser Stelle muss abschließend erinnert werden an einen Beitrag, der am 22. Mai 2016 hier veröffentlicht wurde: Nicht nur (medialer) Missbrauch mit dem Missbrauch von Sozialleistungen. Aber wer "missbraucht" was und wen? Und die Gesetzgebungsmaschinerie darf auch nicht fehlen. Darin wurde auch berichtet von den Vorwürfen eines massiven Sozialleistungsmissbrauchs in Bremerhaven. Auch dort taucht die beschriebene Masche bereits auf: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Verantwortliche von zwei Vereinen, die Zuwanderer gezielt in die Stadt gelockt haben sollen. Mit Scheinarbeitsverträgen sollen sie ihnen Sozialleistungen ermöglicht haben, um dann Geld zu verlangen. Beide Vereine haben den gleichen Vorsitzenden. Offensichtlich geht es um Patrick Cem Öztürk, einem SPD-Politiker aus Bremerhaven und Mitglied in der Bremischen Bürgerschaft.
Und der ist nun offensichtlich richtig ins Fadenkreuz der Ermittler geraten, wie man dem Artikel mit der reißerischen Überschrift Millionenschaden durch falsche Aufstocker: Welche Strafe droht den Hartz-IV-Betrügern? entnehmen kann: »Jahrelang sollen Gelder aus der Sozialhilfe auf illegalen Wegen in die Taschen des Bremer SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Patrick Öztürk geflossen sein. Die Staatsanwaltschaft spricht von einem Millionenschaden. Die SPD hat bereits ein Parteiordnungsverfahren gegen Öztürk eingeleitet, das ihn das Parteibuch und - spätestens bei der nächsten Wahl - seinen Posten kosten könnten.« Wobei man konkretisieren muss: Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Öztürk ("lediglich") wegen Beihilfe zum gewerbsmäßigen Betrug: »So soll Öztürk Provisionen kassiert haben, weil er Rumänen und Bulgaren Arbeitsverträge mit Vereinen beschaffte. Den größten Teil der unrechtmäßigen Hartz-IV-Leistungen bekamen seine Klienten.«
"Dadurch, dass die Summe, die er selbst kassiert hat, so nicht im Millionenbereich liegt, hat er gute Aussichten, eine Bewährungsstrafe zu bekommen", so wird ein Anwalt in dem Artikel zitiert.

Und falls der eine oder die andere einzuwerfen gedenkt, dass doch die Bundesarbeitsministerin dem "Missbrauch" durch Armutsflüchtlinge ein Ende bereiten will und dazu ein Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht hat unter dem Titel "Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" (vgl. Referentenentwurf vom 28.04.2016), dem muss hier leider mitgeteilt werden, dass das keine Entlastung bringen wird und kann in den Fällen, die auch in diesem Beitrag im Mittelpunkt standen. Denn: Denn der Gesetzentwurf verlangt "nur",  dass EU-Ausländer von Sozialhilfe ausgeschlossen werden, wenn sie nicht arbeiten oder durch vorherige Arbeit Ansprüche erworben haben. Wenn die Menschen aber - und sei es nur zu sehr niedrigen Löhnen oder geringer Stundenzahl - hier gearbeitet haben, dann stellt sich die Situation anders dar, die nicht unter die Ausschlussregelung des neuen Gesetzes fallen würden.

Foto: © Stefan Sell